Marketing-Professor Esch

Interaktionen wichtiger als Reichweite? "Das ist kompletter Unsinn"

Franz-Rudolf Esch
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Franz-Rudolf Esch
Verlieren Deutschlands Marketiers vor lauter Trendsetting den Blick fürs Wesentliche? Franz-Rudolf Esch, einer der bekanntesten Marketing-Professoren der Republik, sagt im Interview mit HORIZONT Online: "Es gibt heute eine solche Flut an Buzzwords und eine so große Furcht, nicht up to date zu sein, dass häufig zu schnell agiert und zu wenig reflektiert wird. Plötzlich dominiert das Dringliche das Wesentliche."
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Esch, der mit seinem eigenen Consulting-Unternehmen eine Reihe von großen Kunden berät, äußert sich auch kritisch zu Themen wie Targeting, Influencer Marketing und der Edeka-Kampagne "Supergeil": "Passt ein dicker Mann, der in Lebensmitteln badet, zu dem Claim 'Wir lieben Lebensmittel'?". Zur beliebten Mainstream-Theorie, im digitalen Zeitalter sei Markenführung ein demokratischer Prozess, sagt er: "Die Vorstellung, man müsse seine Marke loslassen und nur noch situativ auf Gespräche im Netz reagieren, führt völlig in die Irre."


Das eigentliche Kernproblem des Marketings sei aber seine schwindende Bedeutung in Unternehmen. Esch: "In Vorstandssitzungen werden ausgiebig Zahlen-Friedhöfe diskutiert, woran es mangelt, ist die Einsicht, dass sich erst etwas in den Köpfen der Verbraucher ändern muss, bevor es sich in den Zahlen widerspiegelt."

Herr Esch, Sie beklagen in Ihrem neuen Buch "Identität", dass sich Top-Manager lieber mit Trends und Moden als mit grundlegenden Fragestellungen des Marketings beschäftigen. Ja, und mein Eindruck ist, dass sich die Situation diesbezüglich weiter verschlechtert.

Wie kann das sein? Dass Marketing insgesamt an Bedeutung gewinnt, ist doch weitgehend Konsens. Man muss zwei Bereiche unterscheiden: strategische Markenführung und taktisch-operative Maßnahmen. Im ersten Bereich ändert sich durch die Digitalisierung nicht besonders viel, im zweiten dagegen sehr wohl. Das führt dazu, dass Manager ihr Augenmerk stärker auf taktische Maßnahmen richten, weil hier der Handlungsbedarf einfach größer ist. Und plötzlich dominiert das Dringliche das Wichtige. Ich halte das für eine sehr gefährliche Entwicklung. Vor allem dann, wenn der Vorstand auf Kongressen oder in Gesprächen irgendwelche Buzzwords aufschnappt und sich anschließend das Marketing im Hamsterrad dreht. Es gibt heute eine solche Flut an Buzzwords und eine so große Furcht, nicht up to date zu sein, dass häufig zu schnell agiert und zu wenig reflektiert wird.

Als eine der größten Segnungen des digitalen Marketings gilt die Möglichkeit eines sehr viel genaueren Targetings als früher. Auch bei diesem Thema wäre eine etwas differenziertere Betrachtung wünschenswert. Ich fand es sehr interessant, wie kritisch sich Procter & Gamble jüngst zu Targeting geäußert hat. Es gibt sicherlich Produkte, bei denen es sinnvoll ist, nur eine exakt definierte Zielgruppe anzusprechen. Dies verfolgt Procter & Gamble zum Beispiel bei werdenden Müttern mit Pampers. Bei den meisten anderen Produkten kann eine zu exakte Zielgruppen-Definition aber kontraproduktiv sein. Die Gefahr bei Targeting ist, zu viele Menschen, die das Produkt vielleicht auch kaufen würden, auszuschließen.
Die Vorstellung, man müsse seine Marke loslassen und nur noch situativ auf Gespräche im Netz reagieren, führt völlig in die Irre.
Franz-Rudolf Esch


Welche Bedeutung hat Influencer Marketing? Social Media wird überwiegend dazu genutzt, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben und sich zu informieren, was in der Welt gerade passiert. Ein geringer Teil dreht sich auch um Marken. Teilweise nehmen Influencer heute die Rolle ein, die früher Meinungsführer innehatten - wobei man immer wieder darauf hinweisen muss, dass 90 Prozent des Word of Mouth nach wie vor in der analogen Welt stattfindet. Es ist keine Frage, dass Social Media wichtiger wird, aber ich glaube nicht, dass Facebook der große Heilsbringer für alle Marken ist. Grundsätzlich gilt, dass sich die Menschen meist nicht aktiv mit einer Marke auseinandersetzen, sondern passiv, flüchtig und beiläufig.

In den aktuellen Debatten vertreten viele Agenturleute die Meinung, Relevanz und Interaktionen seien heute wichtiger als Reichweite. Das ist kompletter Unsinn, der durch Studien auch ständig widerlegt wird. Durch Social Media ändern sich ja nicht die Spielregeln der Identitätsbildung. Das heißt: Natürlich muss eine Marke relevant sein, das war schon immer so, auch vor der großen Digitalisierung. Wenn eine Marke nichts zu sagen hat, ist sie für die Menschen nicht interessant. Aber es ist eben nicht so, dass eine Marke nur im aktiven Dialog als sexy und begehrlich wahrgenommen werden kann. Werbung funktioniert zu einem sehr großen Teil unbewusst. Daher hat klassische Werbung nach wie vor einen signifikanten Effekt auf die Wahrnehmung einer Marke. Ohne reichweitenstarke Werbung ist es schwer, ins Relevant Set der Verbraucher zu kommen. Wer das nicht sieht, begeht einen fatalen Fehler.

Sie beschreiben in Ihrem Buch Fälle digitalen Marketings, die gegen wichtige Grundsätze der Markenführung verstoßen. Zum Beispiel die Edeka-Viralkampagne "Supergeil" mit Friedrich Liechtenstein. Eine gute Kampagne muss eine positive Wirkung für die Marke haben und idealerweise zum Kauf führen - alles andere ist für mich l’art pour l’art, da können die Agenturen noch so viele Awards gewinnen. Bei der erwähnten Edeka-Kampagne bin ich mir nicht einmal sicher, ob man sich im Vorfeld Gedanken darüber gemacht hat, welche konkreten Ziele man mit ihr erreichen will. Es gibt inzwischen eine Fülle von Forschung, die zeigt, dass viele virale Hits zwar überraschend, unterhaltsam oder emotional sein mögen, auf das Image einer Marke aber sogar negativ einzahlen. Passt ein dicker Mann, der in Lebensmitteln badet, zu dem Claim "Wir lieben Lebensmittel"? Nur auf Klicks und Awards zu schauen, ist sicher nicht der richtige Weg.

Edeka - Supergeil

Ist das Marketing der Unternehmen aus Ihrer Sicht insgesamt besser oder schlechter geworden, gibt es einen Fortschritt? Das ist schwer zu sagen. Ich halte es jedenfalls für bedenklich, dass das Marketing in vielen Unternehmen an Bedeutung verloren hat. Es gibt immer weniger Firmen mit einem echten CMO - Opel ist mit Tina Müller eine der wenigen löblichen Ausnahmen. Intern werden die Diskussionen sehr stark von Vertriebsvorständen und Controllern dominiert. Als klassischer Markenmanager haben Sie es da zunehmend schwer, sich durchzusetzen.

Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Ich glaube, es liegt vor allem an dem mangelnden Markenverständnis vieler Top-Manager. In Vorstandssitzungen werden ausgiebig Zahlen-Friedhöfe diskutiert, woran es mangelt, ist die Einsicht, dass sich erst etwas in den Köpfen der Verbraucher ändern muss, bevor es sich in den Zahlen widerspiegelt. Auch die kurzfristige Renditeoptimierung vor allem börsennotierter Unternehmen kann zu gefährlichen Fehlsteuerungen führen. Manager werden an kurzfristigen Erfolgen gemessen und nicht daran, ob es ihnen gelingt, langfristig erfolgreich eine Marke aufzubauen.

Vielleicht liegt das Problem ja auch darin, dass die besten jungen Köpfe heute lieber andere Fächer als ausgerechnet Marketing studieren. Ich rate meinen Studenten immer, nicht dem Geld zu folgen, sondern das zu tun, was ihnen wirklich Spaß macht - dann kommen Erfolg, Zufriedenheit und vielleicht auch das Geld automatisch. Ich habe zwei Söhne, beide haben die gleiche Abitur-Note, beide haben in England studiert - und entwickeln sich trotzdem völlig unterschiedlich. Bei dem Älteren, der als Investmentbanker in London arbeitet, glänzen die Augen, wenn er Zahlen sieht. Meinem anderen Sohn macht nichts mehr Spaß als Marketing-Herausforderungen zu lösen. Und zu Ihrer Frage: Nein, ich glaube nicht, dass es in unserem Marketing-Nachwuchs an Talenten fehlt.

Und in der universitären Ausbildung ist auch alles in Ordnung? Es gibt große Veränderungen, die ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehe. Was ich gut finde, ist, dass sich fast alle jungen Kollegen international ausrichten. Was mir Sorgen bereitet, ist die zunehmende Spezialisierung in unserer Disziplin. Wenn ich die wichtigsten Publikationen und Marketing-Journale durchsehe, finde ich kaum noch Arbeiten, die zur Lösung eines Problems in der Praxis beitragen. Ich fürchte, dass immer mehr Studenten die Hochschulen verlassen, die zwar über hervorragende Spezialkenntnisse verfügen, denen aber der Blick auf die großen Gesamtzusammenhänge fehlt. Und das ist alles andere als wünschenswert.

Interview: Jürgen Scharrer

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